Alle werden glücklich sein, bis auf uns, die Hüter des Geheimnisses: Wir tragen den Fluch der Erkenntnis von Gut und Böse, von richtig und falsch, zumindest geben wir das vor und die Menschen glauben uns. Aber niemand weiß, was wahrhaft gut und wahrhaft böse. Gibt es das Böse überhaupt, die Freiheit, Gott?
Ich wusste es als Kind und war mir sicher, jetzt aber bin ich es nicht mehr und muss umso selbstgewisser dem Volk gegenüber treten, muss ihnen den Weg weisen, die strafen, die von ihm abweichen und alle segnen. Aber es ist mir kein Glück mehr wie zu jener Zeit, als ich zum Priester geweiht und mir die Menschen die Hände küssten. Da waren wir eins, sie und ich, die Menschen der Leib und ich berufen zu führen. Heute bin ich müde und tue meine Pflicht, tue, was mir mein Gewissen gebietet, mehr nicht. Still möchte ich sterben und jenseits des Grabes nichts weiter mehr finden als meinen Tod in alle Ewigkeit.
Glaube ich noch an Gott? Eher nicht, aber ich weiß es auch nicht. Wenn Gott die Welt erlöste, so wäre ich überrascht, aber es war all die Jahre meine Lebensglut, die allmählich schwächer wurde und nun vor dem Erlöschen steht.
Wenn Du aber am Jüngsten Gericht kämest mit Deinen Auserwählten und all jene, die unter unserem Schutze ihr schmutziges kleines glückliches Leben geführt, zu verurteilen gedächtest, ich träte Dir entgegen mit den Worten: Verurteile nicht sie, sondern uns! Wir haben nicht nur für die Starken gelebt, die die Versuchungen von sich zu weisen wussten, sondern für die Millionen, die diese Kraft nicht hatten, die unter der Last des Gutseins zusammenbrachen und ihr Leben im Dreck der alltäglichen Sünde zubrachten.
Ich war selbst in der Wüste, auch ich habe von Heuschrecken und Wurzeln gelebt, auch ich segnete die Freiheit, die Du den Menschen geschenkt, auch ich wollte zu Deinen Auserwählten gehören, bis ich zur Besinnung kam und mich abwandte, dem Wahnsinn zu dienen. Deine Last ist zu schwer, Du verlangst, woran Millionen scheitern mussten, darum schloss ich mich jenen an, die Deine Tat verbesserten, ich ging fort von den Stolzen, die sich über den Rest erheben und zurück zu den Demütigen, um sie glücklich zu machen!"
Der Großinquisitor nahm den Leuchter wieder in die Hand, näherte sich ihm und schaute lange in seine Augen, ohne zu sprechen. Das Weiße seines linken Auges war fast vollständig mit Blut unterlaufen und gab ihm das Aussehen eines kranken, unheimlichen Menschen.
Da näherte Er sich plötzlich dem Greis und küsst ihn ohne ein Wort auf die blassen, kalten Lippen. Die Mundwinkel des Greises beginnen zu zucken, er wendet sich zur Tür, öffnet sie und sagt zu Ihm:
"Geh weg und komm nicht mehr wieder. Geh!"
Ende "Der Großinquisitor" nach
Fjodor Dostojewskij, adaptiert von Gerhard Stenkamp
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